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Was wird aus dem Kiez?

St. Pauli sucht sich selbst

Von Martin Fischer
Veröffentlicht am 09.07.2018Lesedauer: 6 Minuten
Früher war die Reeperbahn vom rotlicht geprägt. Heute ist davon nicht mehr viel geblieben
Früher war die Reeperbahn vom rotlicht geprägt. Heute ist davon nicht mehr viel geblieben

Sie galt als die sündigste Meile der Welt: Doch von dem Rotlicht, das einst die Hamburger Reeperbahn ausmachte, ist nicht mehr viel da. Dennoch soll der Flair auf dem Kiez bewahrt werden.

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„Wer zuletzt noch gerade gehen kann, hat verloren.“ Der Teilnehmer eines der zahllosen Junggesellenabschiede, die schon seit ein paar Jahren und vornehmlich an Wochenenden zusammen mit Zehntausenden anderen Besuchern die Reeperbahn bevölkern, läuft offensichtlich keine Gefahr, in dieser warmen Sommernacht als Verlierer dazustehen. Ein T-Shirt weist den Endzwanziger als Mitglied einer Gruppe aus dem Hamburger Umland aus, die Alex (Netzstrümpfe, rosa Häschenkostüm) mit reichlich Alkohol grölend in den sicheren Hafen der Ehe geleiten will.

„Natürlich ist St. Pauli ein Ort, an dem man Dinge tun kann, die man in Castrop-Rauxel nicht machen darf“, sagt Julia Staron. Die Quartiersmanagerin des BID – des Business Improvement Districts Reeperbahn, einem Zusammenschluss von Immobilienbesitzern und Gewerbetreibenden – ist dennoch genervt von derlei Treiben. Sie spricht von Grenzen, „die man mit diesem platten Wort Respekt“ bezeichnen könne. „Respekt vor den Wohnquartieren und Respekt vor dem Lebensraum, der St. Pauli ist. Das ist hier keine Kulisse, das ist nicht Disney Land.“

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Gerade die alkoholtrunkenen Junggesellenabschiede sind ihr ein Dorn im Auge: „Das ist doch nur billig und dumm. Und wenn man dann hier lebt und diese Gesellschaften durch die eigene Straße ziehen – und dann kommen noch diese Gästeführer im Minutentakt vorbei, einer bunter und lauter als der andere – dann ist das schon krass.“

St. Pauli sei immer im Wandel gewesen. „Aber momentan haben wir das Gefühl, es kippt irgendetwas – so stark, dass es eine Verdrängung nach sich ziehen könnte“, sagt Staron. Das BID hat deshalb mit Vereinen und Kirchen eine Initiative angestoßen, um das Leben auf St. Pauli auf die Unesco-Liste für immaterielles Kulturerbe zu bringen.

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Doch dafür müsse man erst einmal ermitteln, was dieses Leben ausmache und ob es denn überhaupt bewahrenswert sei, sagt Staron. „Wir wollen jetzt herausfinden, was dieser Kern ist. Was ist denn dieses Gefühl, das jeder mit St. Pauli verbindet, worüber wird es gesteuert und wie wird das Viertel davon befeuert?“ Eine Fragebogenaktion soll helfen, das zu klären.

Zumindest in Sachen Rotlicht ist die sündigste Meile der Welt längst nicht mehr das, was ihr Ruf verspricht – auch wenn die Gästeführer das professionell anders sehen und ihre Kunden zu Dutzenden gezielt in die wenigen noch verbliebenen alteingesessenen Kaschemmen wie den „Silbersack“ oder die „Ritze“ führen. Schafften in den 80er Jahren noch mehr als 1000 Prostituierte im Bereich der Reeperbahn an, ist es heute nicht einmal mehr ein Drittel.

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„Das Rotlicht ist doch nur noch Staffage.“ Michel Ruge ist auf dem Kiez aufgewachsen. Sein Vater betrieb mehrere Bordelle. Der 48-Jährige hat als Türsteher gearbeitet, war in den 80er Jahren Gangmitglied. Heute ist der Kampfsportler Schauspieler und Buchautor. Zwar würben an der Davidstraße nach wie vor Prostituierte um Freier. „Mich wundert eigentlich, dass das Bezirksamt ihnen nicht Geld dafür zahlt“, sagt er. „Weil es ja das einzige ist, was noch diese verruchte Seele ein bisschen verkörpert.“ Wenn immer mehr Touristen den leichten Damen bei der Werbung um Kunden interessiert zusähen, „welcher Freier geht da schon noch mit“, fragt Ruge.

In den „goldenen“ 60er und 70er Jahren sei das ganz anders gewesen. „Der Kiez galt als größtes Rotlichtviertel der Welt und daraus ist auch eine eigene Kultur entstanden aus Halbwelt, Wirtschaft und Künstlern. Alles das, was nicht kleinbürgerlich war, hat sich hier getroffen.“

Damals habe ein anderer Geist geherrscht, geprägt nicht zuletzt durch Rotlicht-Größen wie den Franzosen René Durand, der in den 1960 Jahren im „Salambo“ auf der Großen Freiheit den Live-Sex erstmals auf die Bühne brachte. „Es gab ein Zusammengehörigkeitsgefühl schon durch die Ausgegrenztheit.“ Natürlich sei es auch damals vor allem ums Geld gegangen. „Aber die Menschen, die hier ihr Geld verdient haben, haben auch viel wieder in das Viertel gesteckt.“

Dass der Kiez seine sündige Seele verlor, führt Ruge auf Koks und Aids in den 80er Jahren zurück. HIV habe das Geschäft mit dem Sex zerstört, das Rauschgift die Struktur im Rotlicht. „Vom Kokain wurden alle süchtig. Und wie das Kokain bei Menschen wirkt, so wirkte es auch hier: Erst total euphorisch, total kraftvoll, dann total gehetzt, dann Ängste und Psychosen. Am Ende hatten wir hier eine riesen Gewaltspirale, die dann auch in den Mordfällen von Pinzner gipfelte.“

Buchautor Michael Ruge ist auf dem Kiez aufgewachsen
Buchautor Michael Ruge ist auf dem Kiez aufgewachsen

Dem Auftragskiller Werner Pinzner werden im Kampf um Drogen und Rotlichtmilieu zwölf Morde zugeschrieben. Bei einer Vernehmung im Hamburger Polizeipräsidium erschoss er 1986 den ermittelnden Staatsanwalt, seine Frau und sich selbst.

„Das Rotlicht hat St. Pauli einmal ausgemacht. Jetzt gibt es auf der Reeperbahn nur noch ein, zwei Läden mit Tabledance“, meint auch Jörn Nürnberg (58). Er betreibt mit seinem Bruder Sascha in mittlerweile dritter Generation am Hamburger Berg den „Goldenen Handschuh“ – berühmt nicht nur durch den früheren Stammgast und Serienmörder Fritz Honka. Ein Übriges tat das Internet. Pornografie ist heute jederzeit und überall verfügbar. Die Sex-Kinos auf dem Kiez machten dicht.

„Jetzt haben wir im Bereich Reeperbahn über 50 Kioske und jede Menge Fettbuden.“ Bei Quadratmeterpreisen von bis zu 100 Euro für Gewerbeflächen sei das Geld aber kaum mehr anders zu verdienen, sagt Nürnberg. Doch die Kioske machen den Club- und Barbesitzern zu schaffen. Sie versorgen die jugendlichen Besucher mit billigem Alkohol, der dann auf der Straße in Strömen konsumiert wird.

Das Problem sei, „dass St. Pauli attraktiv geworden ist für jedermann“, meint Margot Pfeiffer. Als bürgernahe Beamte tut die 58 Jahre alte Hauptkommissarin Dienst auf der berühmten Davidwache, schon seit 1983. „Außer den Theaterbesuchern und den Touristen kommen viele zumeist junge Leute aus Hamburg, ganz Deutschland und Europa nach St. Pauli. Sie wollen feiern und trinken.“ Und das führe nicht selten zu Gewalt. „Deshalb haben wir eine Menge Körperverletzungen oder gefährliche Körperverletzungen, die hier angezeigt werden.“

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Diese Entwicklung macht auch den Brüdern Nürnberg Sorge. „Wir müssen mittlerweile Security beschäftigen, um unsere Gäste und Angestellten zu schützen“, sagt Sascha Nürnberg und verweist auf die Kosten. „Rechnen Sie das mal für drei Läden – im „Handschuh“ rund um die Uhr.“

Den Brüdern gehören die Häuser, in denen sie ihre Lokale betreiben. Die Struktur der Immobilienbesitzer auf dem Kiez sei aber „sehr heterogen“, sagt Quartiersmanagerin Staron. „Wir haben hier noch die Alteingesessenen, die nicht in Goldgräberstimmung verfallen sind, aber eben auch andere, die auf Rendite und Gewinnmaximierung aus sind.“ Das treibe auch die Wohnungsmieten in die Höhe. „Und da sehe ich eine Gefahr.“

Hauptkommissarin Pfeiffer mag ihr St. Pauli wie es ist. „Sehr sogar. Ich mag die Menschen, die hier wohnen. St. Pauli ist ein Schmelztiegel. Hier hat jeder die Möglichkeit, so zu sein, wie er sein möchte.“ Die Menschen hätten sich nach ihrer Ansicht auch nicht sehr verändert, aber der Stadtteil, dem ein „Ballermann-Image“ drohe. Immobilienbesitzer, Wirte und Geschäftsleute, Verantwortliche aus Politik und Behörden sollten deshalb einen Konsens finden, um die Waage zu halten. „Wenn das klappt, kann St. Pauli St. Pauli bleiben.“